Blog-Archive

mandy (panos cosmatos, USA/BE 2018)

Wenn man in zehn bis zwanzig Jahren auf das amerikanische Kino der späten 2010er Jahre zurückblickt, auf der Suche nach den augenfälligsten Manifestationen der kollektiven (Geschlechter-)Befindlichkeiten und Konflikte unserer Zeit (vor allem in Bezug auf die Rolle des Mannes in einer zunehmend – so die Ängste vieler – überzivilisierten Gesellschaft, die dem archetypisch „Männlichen“ immer kritischer gegenüber steht) – man würde in Mandy, Panos Cosmatos‘ zweitem Kinofilm nach Beyond the Black Rainbow (2013), wohl auf spektakulärst mögliche Weise fündig werden. In Mandy bricht das Unwohlsein mit der (Über-)Vorsicht unserer Zeit so wild und wütend hervor, wie schon lange nicht mehr im Kino: in einer zweistündigen, ungehemmten Orgie mythischer Männerbilder lässt Cosmatos am Beispiel dreier zentraler Männerfiguren das Wilde, Primitive und sozial Unverträgliche in farbenprächtigsten, einnehmenden Bildern über die Leinwand flackern, die man – folgt man den Imperativen unserer Zeit – eigentlich nur als unangebracht empfinden kann. Man müsste meinen, dass der „wilde Mann“ (wie ihn der Schriftsteller Robert Bly in seinen mythopoetischen Männerselbstfindungs-Ratgebern der ausgehenden 1980er und frühen 1990er Jahre konstruiert) am Beispiel zeitgenössischer Androzentristen und Impulstäter wie Donald Trump oder Harvey Weinstein genug Abschreckendes gefunden haben sollte, um sich zu mäßigen – doch weit gefehlt: die aus den Unappetitlichkeiten der Trump-Ära und des Falles Weinstein erwachsenen Forderungen nach Zurückhaltung scheint der männliche Held des neuen, harten Genrekinos zum Anlass zu nehmen, um sich nur noch mehr in Rage zu kochen, und das im Kern noch gewaltlose Bly’sche Konzept einer ausgeglichenen, in sich ruhenden Männerwildnis nunmehr ins völlig Monströse eskalieren zu lassen.

Am Anfang von Mandy steht jedoch noch der Frieden und die Liebe – wenngleich auch in Form einer (tendenziell) bereits sehr männlichen Aussteiger-Fantasie: in der Wildnis der nordamerikanischen Wälder hat es sich der bärtige, wortkarge Holzfäller Red Miller (Nicolas Cage) mit seiner großen Liebe Mandy (Andrea Riseborough) in einem kleinen Domizil hübsch eingerichtet – ein kleines Landhaus an einem See, paradiesisch-wild, im Schoß der Natur. Sein Tagwerk, scheinbar das letzte, verhasste Überbleibsel der modernen, kapitalistischen Welt, verrichtet Miller teilnahmslos, eigentlich eher grummelig und widerwillig, und erst die gemeinsam mit Mandy verbrachten Abende in der Dunkelheit der Wälder, am selbst entzündeten Lagerfeuer, denen der Film eine lange, fast hypnotische Exposition von beinahe einer halben Stunde widmet, scheinen ihm Glück und Frieden zu bringen. Die Frau wirkt dabei meist wie eine stille Beobachterin, beinahe wie eine „Schülerin“ des wilden Mannes: aufmerksam erforscht sie das Wilde in und um Miller, lässt es sich erklären (in einer Szene, in der beide im Boot auf dem großen See treiben, macht es den Eindruck, als ob Miller mit enthusiastischen Gesten die Wildnis – und den männlichen Blick auf sie – zu veranschaulichen versucht, während Mandy, zurückgelehnt, einem Publikum gleich, Millers Ausführungen rezipiert) – insgesamt scheint Mandy in diesen ersten dreißig Filmminuten ein tieferes Verständnis für die sie umgebende Wildnis zu entwickeln als Miller selbst, der in vielen Momenten weitaus unsicherer wirkt, und sogar den Gedanken äußert, das Leben in den Wäldern aufzugeben und wegzuziehen. Selbst die angsteinflößendsten Ausprägungen des Wilden, denen sie (real und retrospektiv) begegnet, scheinen Mandy nicht nachhaltig zu verunsichern, geschweige denn sie von ihrer forschenden Neugier abzubringen: im Wald findet sie ein gerissenes Rehkitz, und Miller erzählt sie abends von den Erinnerungen an ihren Vater (dem zweiten „wilden Mann“ des Films), der sie als junges Mädchen in die Gewalt initiieren wollte, indem er alle Kinder der Nachbarschaft Vogelküken erschlagen ließ. Daraufhin spürt Mandy dem Wilden auch im Mythologischen nach, liest das esoterische Buch „Seeker of the Serpent’s Eye“ – und trifft wenig später auf den dritten wilden Mann des Films: den Sektenführer Jeremiah Sand (Linus Roache), der mit seinen „Children of the New Dawn“ auf der Suche nach neuen Anhängern durch die Wälder streift, und sich nimmt, was er will. Von ihm wird Mandy entführt, unter Drogen gesetzt, und kurz darauf umgebracht.

Ein trauriges, sinnloses Ende, dass es dem Film (und Red Miller) jedoch nun ermöglicht, völlig die Fassung zu verlieren. An die erste Filmhälfte, die die Eskalation des Männlichen durch die Perspektive der Frau vorausahnt, schließt sich Millers Rachefeldzug gegen Jeremiah Sand und die anderen Mitglieder der Sekte an – inszeniert als grandiose Orgie männlicher Selbstverwirklichung. Überlegenheit, Dominanz, Wettkampf: all die aggressiven Ausprägungen der Männerwildnis, die vorher nur vage und unausgesprochen über den Wäldern, über Mandys Wahrnehmung und ihren Erinnerungen lagen, werden nun zu expliziten Konstanten und prägen die weiteren 60 Minuten des Films, die in der stufenweisen Abarbeitung der Gegner an die Levelstruktur von Computerspielen erinnern. Immer mehr verfremden sich die Wälder um Miller zu einem mythischen Fantasie-Kosmos, es brodelt und dampft aus Geysiren und kleinen Vulkanen, der Himmel ist in blutrote Farben getaucht, und die Sektenmitglieder, die Miller mit einer selbstgeschmiedeten Streitaxt bekämpft, fordern die Männlichkeit des Protagonisten mit grotesken, alptraumhaft übersteigerten Phallussymbolen heraus. Ein wilder, feuerspuckender Schlund, der den Mann zum Mann formt – und auch wenn Cosmatos kaum ein archaisches Bild auslässt, um Miller auf seiner Reise zu sich selbst zu visualisieren, so schält sich doch immerhin ein kritisches Bewusstsein dafür heraus, wo sich die mythischen Konstrukte des Männlichen im zivilisatorischen Gefüge unserer Zeit einzuordnen haben: wie auch in den Filmen von S. Craig Zahler (mit denen Mandy in seiner ungezügelten Männerwut vielleicht am ehesten zu vergleichen ist) findet das Finale, die letzte Kollision der Männer-Egos, in einer dunklen Höhle statt – außerhalb der Gesellschaft, weggeschoben und verdrängt in die nächtlichen Schatten und Unterwelten des gesellschaftlichen Bewusstseins. Bei Tageslicht (oder auch: außerhalb des Kinos) haben die mythologischen Urwüchsigkeiten aus den wilden Träumen von Cosmatos und Zahler keinen Bestand mehr.

Am Ende hält das Wissen um gesellschaftliche Realitäten Cosmatos jedoch nicht vom aktiven Gegenentwurf ab: als Miller nach seinem gottgleich ausgespielten Racheakt die Höhle verlässt, hat sich die Welt um ihn herum nicht verändert, ist immer noch die gleiche, brennende Fantasie-Landschaft wie zuvor. Die Rückkehr in die Ordnung und Vorsichtigkeit der Realität findet nicht statt – Miller bleibt, und wir (so will es Cosmatos wohl) sollen auch bleiben. So ironiefrei und distanzlos, wie sich Miller und Mandy zu Beginn des Films Don Dohlers gering budgetiertes, von einer breiten Öffentlichkeit wahrscheinlich ebenso (als „Trash“) missachtetes ‚creature feature‘ Nightbeast (USA 1982) anschauen, so liebevoll umarmt möchte er das von ihm Zelebrierte, das unerhört Männliche, auch von seinem eigenen Publikum wissen. Eine Relativierung ist letztlich genauso unnötig wie die feministische (oder gewissermaßen: vernünftige) Perspektive, aus der heraus man sicherlich vieles an Mandy wahlweise belächeln oder verurteilen könnte. Denn das Kino vergibt und erlaubt uns bedingungslos. Und gerade in den wutschäumenden Welten von Mandy legt es den Mythen des Männlichen – egal, wie tief sie dieser Tage in der Krise stecken – die vielleicht schönsten und abenteuerlichsten Spielplätze an, die man sich wünschen kann.

the vvitch (robert eggers, USA/GB/CDN 2015)

witch_ver3_xlgIm Januar diesen Jahres wurde ich das erste Mal auf Robert Eggers‘ The VVitch aufmerksam, als ich auf Spotify über die aufregende Filmmusik Mark Korvens – eine avantgardistische Klangkomposition für Streicher, Frauenchor, Waterphone und andere exotische Instrumente – gestolpert bin. Ein kurzer Blick in die IMDb versprach dann auch auf filmischer Ebene eine Besonderheit. Der kürzliche Kinobesuch hat diese Erwartungen voll und ganz bestätigt: ein großartiger, bedrückender, aber auch beglückender Film – eine historische Aufarbeitung früher Hexenhysterie im puritanischen Neu-England des 17. Jahrhunderts, nüchtern inszeniert, in antiquiertem Old English und beruhend auf akkuraten historischen Quellen. „A New England Folktale“ verspricht die Tagline treffend.

Historische Horrorfilme sind leider selten geworden (Hexenfilme erst recht), und obwohl Eggers einen realistischen, künstlerischen Ansatz wählt, der mit den exploitativen Genrefilmen der 70er Jahre kaum noch etwas zu tun hat, fühlt man sich dennoch angenehm nostalgisch berührt. Gerade das furiose Ende ruft den surrealistischen Exzess großartiger Satanismus-Filme vergangener Jahrzehnte ins Gedächtnis. Trotzdem sind weite Teile des Films außerordentlich subtil und psychologisch angelegt. Die Geschichte einer Familie, die wegen ihres zu kompromisslos gelebten (!) Glaubens aus einer Kolonie verstoßen wird und auf einer kahlen Waldlichtung ihr Exil errichtet, ist beklemmend inszeniert, in grauen, farbentsättigten Bildern, und zeigt den allmählichen psychischen Verfall, angeregt durch die Angst, alleine und ohne den Schutz der Siedlung nicht mehr zurechtzukommen. Erst verschimmelt der Mais, dann verschwindet das Baby. „Gott“ scheint sich gegen die Familie zu wenden. Unter den Familienmitgliedern brodelt die religiöse Hysterie: es muss ein Fluch sein, der Teufel ist im Spiel. Als die anderen Kinder vermeintliche Symptome von Besessenheit zeigen, richtet sich der Hass gegen die älteste Tochter, die gerade die ersten Anflüge ihrer aufkeimenden Sexualität erlebt.

Eggers‘ Film zeigt auf beeindruckende Weise, wie sich religiöse Gefühle in einer Ausnahmesituation – und in der spezifischen Dynamik einer familiären Gruppe – zum selbstzerstörerischen Wahn entwickeln. Obwohl die Hexe einige Male im Film in jeweils unterschiedlicher körperlicher Erscheinungsform gezeigt wird, bleibt es im Unklaren, ob sie wirklich existiert oder nur das Produkt paranoider Angstprojektionen ist. Das Verhalten des Sohnes, der zunächst im Wald verschwindet und einige Tage später völlig nackt und zerschunden wieder am Haus auftaucht, scheint zudem von der zunehmenden Hysterie der Eltern einerseits und seiner Bindung an sie andererseits beeinflusst. Das Ur-Vertrauen zum Elternteil löst auf dem Krankenbett auto-suggestive, psychosomatische Symptome aus, die die antrainierten religiösen Ängste bestätigen: Fieber, Krampfanfälle, Erbrechen von Blut. Zu berücksichtigen wäre letztlich auch der Effekt der Ausgrenzung, der bei den Verstoßenen das Gefühl der Andersartigkeit und damit die Zweifel am „rechten Glauben“ noch verstärkt. War die Ausweisung aus der Siedlung gerechtfertigt? Haben die Richter der Kolonie die wahren Hexer verstoßen?

Viele der projizierten Ängste richten sich in Eggers‘ Film auf die Symbole der Natur. So ist nicht nur die Sexualität der ältesten Tochter angstbesetzt, auch die Tiere des Waldes werden – entsprechend der christlichen ikonographischen Tradition – als Manifestationen satanischer Präsenz inszeniert: der linkische Hase, der triebhafte Ziegenbock, der todbringende Rabe. Jedem Tier werden mehr oder weniger prägnante Sequenzen im Film gewidmet (insbesondere in der surrealen, blutigen Kulmination des familiären Konflikts gegen Ende des Films haben Rabe und Ziegenbock beängstigend intensive Auftritte), aber auch in den eher beiläufigen Momenten ringt die eindringliche Bildkomposition den eigentlich harmlosen Erscheinungsbildern der Tiere unheilvolle, subtil verängstigende Wirkungen ab. (Ein kurzes Wort zur Wahl des Bildformats: Eggers entschied sich für ein „zeitloses“ 1,66:1, welches dem Trend der zeitgenössischen Widescreen-Ästhetik entgegenläuft und beengende, konzentrierte Bildräume schafft. Der fokussierende Charakter des schmalen Bildes zwingt die Zuschauer in die ideologisch aufgeladene, hypersensible Perspektive der Familie: in jeder alltäglichen Erscheinung – seien es die Tiere, die Bäume oder ein Maiskolben – könnte sich das Verderben verstecken. Ein faszinierender Kunstgriff, der die behandelten Probleme der religiös überprägten Wahrnehmung subtil ins Filmische übersetzt.)

Vom „Satanic Temple“, einer politisch-aktivistischen Organisation, die sich sowohl der christlichen Kultur der USA kritisch widersetzt als auch den traditionellen Satanismus einem rationalistisch-humanistischem „Re-Thinking“ unterzieht, wurde The VVitch hochgelobt und beschrieben als „an impressive presentation of Satanic insight that will inform contemporary discussion of religious experience“. In der Tat ist Eggers‘ Film wichtiges, aufklärerisches Kino, das durch seine auf Breitenwirkung angelegte Vermarktung (man beachte z.B. die Konventionalität des Kinoplakats) scheinbar auch beim größeren Publikum prägende Wirkungen erzielen wollte. Bei Betrachtung des derzeitigen Einspielergebnis dürfte das gelungen sein, auch wenn negative Mundpropaganda durch diejenigen, die konventionelles Horrorkino erwartet haben, nicht zu vermeiden war und dem Film in den ersten Wochen nach Kinostart einige Umsatzeinbrüche beschert hat. Nichtsdestotrotz ist dem Film der Erfolg von Herzen zu gönnen. Die realistische, historisch exakte und mit wohldosiertem surrealem Schockmoment versehene Studie über die psychologischen Mechanismen religiöser Hysterie hat das Zeug zum Klassiker.

blue sunshine (jeff lieberman, USA 1978)

blue-sunshine-movie-poster-1978-1020209285Blue Sunshine funktioniert eigentlich am besten, wenn man sich im Vorfeld so wenig wie möglich über ihn informiert. Ich möchte daher auch einige zentrale Elemente des Plots unerwähnt lassen und nur grob die Grundzüge der Handlung umreißen: Jerry Zipkin (Zalman King) wird auf einer Party Zeuge eines Amoklaufs – sein Freund Frankie, dem alle Haare ausgefallen sind, verliert in einem Anfall irrationaler Aggressivität jegliche Beherrschung und wirft einen weiblichen Partygast in den Kamin. Kurze Zeit später greift er auch Jerry an und nach einer Verfolgungsjagd durch die Nacht endet der unerklärlicherweise dem Wahnsinn Verfallene vor einen vorbeifahrenden Lastwagen. Jerry flieht vom Ort des Geschehens, wird vom misstrauischen Lastwagenfahrer jedoch verletzt. Er lässt sich beim Arzt David Blume, einem alten Bekannten, behandeln – und staunt nicht schlecht, als er entdeckt, dass auch David die Haare ausfallen. Am nächsten Tag liest Jerry zufällig in der Zeitung, dass ein glatzköpfiger Polizist im Wahn seine gesamte Familie abgeschlachtet hat…

Liebermans Film erklärt im weiteren Verlauf einiges (vielleicht sogar etwas zu viel), versteht es aber dennoch auf bemerkenswerte Weise, den Zuschauer zu irritieren und zu verstören. Bis einigermaßen klar wird, was hinter den Amokläufen und Gewaltausbrüchen steckt, vergeht eine gute Dreiviertelstunde und selbst danach bleibt noch vieles im Unklaren. Es ergeben sich Verbindungen zu einem Politiker (Mark Goddard), der sich gerade im Wahlkampf befindet und von dem Jerry in der Wohnung seines Freundes Frankie eine bizarre Fotomontage findet. Sie zeigt den Gouverneurs-Kandidaten als bunt gekleideten, psychedelischen Messias – darunter der Schriftzug: Blue Sunshine.

Die Verstrickung der Politik in mysteriöse Fälle wahnhafter Gewaltausbrüche erinnert an Verschwörungsthriller wie Alan J. Pakulas vier Jahre zuvor entstandenen The Parallax View (1974) – mit Pakulas Film teilt Blue Sunshine auch die zunächst unzusammenhängend anmutende, verwirrende Exposition, die dem Zuschauer ein Gefühl der Desorientierung und des Ausgeliefert-Seins vermittelt, sowie die Konzentration auf „kalte“ Locations wie Hoch- und Krankenhäuser, Einkaufszentren und sonstige Orte moderner Stadtarchitektur. Das Finale ereignet sich wie bei Pakula im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung und statt der echten Verantwortlichen wird am Ende nur der ebenfalls von Wahn und Haarausfall geplagte Bodyguard des Politikers aus dem Verkehr gezogen – die Hintermänner, so scheint es, werden weiter im Dunkeln bleiben. Das während der Wahlveranstaltung spielende Marionettentheater wird so zum treffenden Sinnbild einer manipulierten, in Unwissenheit gehaltenen Gesellschaft.

Wie bereits geschrieben, hätte Blue Sunshine möglicherweise noch größere Wirkung entfaltet, hätte er gegen Ende weniger erklärt und vor allem die medizinischen Gründe für die Amokläufe nicht eindeutig offengelegt. Dennoch, eine echte Aufklärung der Hintergründe gibt es nicht, das Bild des Politikers bleibt schemenhaft und unvollständig, zentrale Fragen stehen weiterhin unbeantwortet im Raum. Was bleibt, ist das nagende, brodelnde Gefühl der Verunsicherung – einer Verunsicherung über die Verfassung der Gesellschaft, die ganz plötzlich, aus heiterem Himmel von dunklen Kräften zerrissen werden kann. Großartig ist in diesem Zusammenhang die episodisch gestaltete, vom psychedelisch-avantgardistischen Score höchst wirkungsvoll vertonte Eröffnungssequenz, die den von Kopfschmerzen geplagten Arzt, eine gestresste Nanny mit Haarausfall und einen psychotisch dreinblickenden Ehemann zeigt, der kurz darauf seine Familie umbringen wird. Zwischen diesen kurzen Episoden schwenkt die Kamera in einer geschickten Überblendung immer wieder hinauf zum blassen Vollmond, der nicht nur die glatzköpfigen Wahnsinnigen bildlich vorweg nimmt, sondern auch zur stummen, mysteriösen Instanz wird, die alles zu steuern scheint – und am Ende des Films immer noch so rätselhaft am Nachthimmel steht wie zu Beginn.

Erfreulicherweise wurde Blue Sunshine vor kurzem vom wiederentdeckten Originalnegativ abgetastet. In den USA gab es bereits Kinovorführungen eines neuen 4K-Masters, eine Bluray ist ebenso in Planung. Bleibt abzuwarten, ob irgendwann auch eine europäische HD-Veröffentlichung folgt, die die wenig überzeugende deutsche DVD von cmv-Laservision ablöst.

 

Fassungs-Info:

– deutsche DVD-Veröffentlichung von cmv-Laservision (2005)

psychomania (don sharp, GB 1973)

PsychomaniaAnfang der 1970er Jahre lag der klassische britische Gothic-Horror der Hammer Films in seinen letzten Zügen. Die historisch angehauchten, gediegen inszenierten Gruselfilme um Dracula, Frankenstein und andere ikonische Filmmonster verloren den Anschluss an die Gegenwart und ans junge Publikum – mit gut gemeinten, aber verkrampften Modernisierungsversuchen wie Alan Gibsons Dracula A.D. 1972 / Dracula jagt Mini-Mädchen (1972) scheiterte Hammer kläglich und selbst Dracula-Mime Christopher Lee distanzierte sich zusehends von den unausgegorenen, oft eher lachhaften filmischen Verjüngungskuren, denen sich Hammer unterzog. Kurzum: die 70er benötigten ein neues, frisches Horrorkino, das die Zeichen der Zeit, die Gegenkultur der späten 60er und die gesellschaftlichen Umbrüche einer komplizierten Gegenwart zu spiegeln vermochte – einer Gegenwart, in der das Kinopublikum nicht mehr von transsilvanischen Spukschlössern, sondern von Kriegen, Satanismus (Rosemary´s Baby, 1967) und gesellschaftlicher Spaltung (Night of the Living Dead, 1968) beunruhigt wurde.

Als zentraler Vertreter der Erneuerung im britischen Horrorfilm der 1970er Jahre gilt Robin Hardys Sektenthriller The Wicker Man (1973) – ein verstörendes Regiedebüt, welches Hippie-Kultur, freie Liebe und Neuheidentum zu einer paranoiden Albtraumvision steigert. Doch auch etablierte Regisseure, die zuvor klassische Stoffe für Hammer inszenierten, betätigten sich nun – außerhalb des Hammer-Dunstkreises – an unkonventionellen und ambitionierten Projekten. Genre-Routinier Freddie Francis drehte den satirisch-subversiven Kinderspiel-Horror Mumsy, Nanny, Sonny and Girly (1970), Robert Fuest, zuvor TV-Regisseur bei den Avengers, legte mit seiner beunruhigenden Provinzgeschichte And Soon the Darkness (1970) einen frühen Vertreter des Backwood-Horrorfilms vor und Peter Sasdy inszenierte für das britische Fernsehen die ungewöhnliche Geistergeschichte The Stone Tape (1972). In den folgenden Jahren befruchteten immer mehr Filmemacher das englische Horrorkino mit frischen Ideen: der Amerikaner Gary Sherman drehte in England Death Line (1972), der Londons vergessene U-Bahn-Tunnel mit degenerierten, mitleiderregenden Kannibalen bevölkert und Pete Walker führte mit dem blutigen Frightmare (1974) die stilistischen Gepflogenheiten des Splatterfilms in den Brit-Horror ein.

Zur Gruppe der alten Garde zuverlässiger (Hammer-)Handwerker, die Anfang der 70er neues Terrain erkundeten, zählt auch Don Sharp, der mit dem schrägen Psychomania 1973 einen ganz eigensinnigen Beitrag zum neuen britischen Horror leistete. Sharps Film handelt von einer Bikergang, dessen Anführer Tom (Nicky Henson) durch ein altes, okkultes Familiengeheimnis in der Lage ist, nach dem Selbstmord als Untoter ins Leben zurückzukehren. Nach seiner Wiederkehr wendet er das Ritual auf die restlichen Mitglieder seiner Gang an und treibt sie in den Selbstmord. Einzig die zweifelnde Abby (Mary Larkin) lässt sich nicht auf Toms Pläne ein und stellt sich ihrer Gang in den Weg.

Der Biker als Symbol der Gegenkultur ist im Kino der 1960er und 1970er Jahre ein regelmäßig anzutreffendes Motiv, entwickelt sich gar zum eigenen Subgenre – Dennis Hoppers New-Hollywood-Roadmovie Easy Rider (1969) ist eines der prominentesten Beispiele für den Rockerfilm, aber auch der Horror- und Exploitationfilm verleibte sich das Motiv ein und koppelte die Figur des Bikers an Monstertruthähne (Blood Freak (Brad F. Ginter / Steve Hawkes, 1972)) oder Werwölfe (Werewolves on Wheels (Michel Levesque, 1971)). Auch Sharps Psychomania erfüllt letztlich die Kriterien eines solchen B-Movies (hölzern agierende Darsteller, haarsträubende Dialogzeilen), doch geht der Film in der Verarbeitung der Thematik immerhin deutlich subtiler vor als seine Vorgänger: die untoten Biker kommen überraschenderweise gänzlich ohne fauliges Zombie-Make-Up aus, ebenso legt der Film Wert auf eine atmosphärische und geschmackvolle Bildgestaltung von Bond-Kameramann Ted Moore, der nebelverhangene Felder und Waldstücke ganz im Stil der altmodischen Hammer-Gothics inszeniert. Sharp und Moore gelingen im Verlauf noch weitere erinnerungswürdige Bilder, etwa wenn Anführer Tom auf seinem Motorrad sitzend bestattet wird (begleitet vom sanften Hippie-Gesang und Gitarrenspiel der Gangmitglieder!) und kurze Zeit später mit lautem Motorgeheul aus dem Grab brettert.

Auf der inhaltlichen Ebene ist es schließlich das Motiv des kollektiven Selbstmords, das sich vom unzeitgemäßen britischen Hammer-Horror der 60er Jahre absetzt. Die Zeichnung der Bikergang als Sekten-ähnliche Vereinigung, die ihre Mitglieder aus okkulten Gründen zur Gewalt motiviert, schließt unmittelbar an die vom Manson-Terror geprägte Realität der ausgehenden 1960er Jahre an. Interessant ist auch das Verhältnis zur älteren Generation: Toms Familie und insbesondere die okkulten Handlungen vom Toms Mutter sind letztendlich die Auslöser der unheilvollen Ereignisse und die Inszenierung des Elternhauses als überheblicher, selbstgefälliger Snob, der das gefährliche Familienerbe bereitwillig an die junge Generation weitergibt, lässt schließlich keinen Zweifel mehr an der gesellschafts- und traditionskritischen Intention des Regisseurs.

Sharps Psychomania wurde trotz zeitgenössischer Thematik und frischer Ideen nicht zum Hit und dürfte heute im Bekanntheitsgrad sogar noch hinter Hammers größten Flops rangieren. Von einem guten und mitreißenden Film zu reden, wäre letztendlich auch übertrieben, dennoch ist Psychomania ein aufschlussreiches Zeitdokument und als Teil der wohl interessantesten Phase des britischen Horrorkinos auf jeden Fall eine Sichtung wert. Umso erfreulicher, dass sich das kleine DVD-Label Colosseo 2013 des Films angenommen und ihm eine solide, preisgünstige Veröffentlichung spendiert hat.

 

Fassungs-Info:

– deutsche DVD-Veröffentlichung von Colosseo/Al!ve (2013)
– Hartbox-Repack der Colosseo-DVD in drei Covervarianten (2013, Xylophon)